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©Anna Beiser
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Gas- und Strompreisentwicklung. „Wir kaufen risikoarm bis zu drei Jahre im Voraus.“

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Der überhitzte Markt scheint sich abzukühlen: Im Großhandel fallen seit einigen Wochen die Preise für Strom und Erdgas. Der Beschaffungsexperte Marco Beiser erklärt im Interview, warum das so ist und warum die Entwicklung an der Börse erst zeitversetzt bei den Kund:innen der Rheinhessischen ankommt.

Herr Beiser, erstmals seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gehen die Preise für Strom und Erdgas im Großhandel zurück. Fast parallel haben viele Versorger ihre Preise zum Januar 2023 angehoben. Auch die Rheinhessische. Wie passt das zusammen?

Grundsätzlich unterscheidet der Energiehandel an der Börse zwei Märkte – den sogenannten Spotmarkt für den kurzfristigen Einkauf sowie den Terminmarkt für die langfristige Beschaffung. Auf beiden Handelsplätzen regeln Angebot und Nachfrage das Geschehen. Durch die nach wie vor gut gefüllten Gasspeicher und den bislang milden Winter geben die Preise inzwischen auf beiden Märkten nach – sicher ein positives Signal, aber noch keine Trendwende, die jetzt unmittelbar und 1:1 bei den Haushalten ankommt.

Und warum kommen die Großhandelspreise erst einmal nicht bei den Kunden an?

Als regionaler Grundversorger haben wir den Auftrag, die hier lebenden Menschen sicher und zu marktgerechten Konditionen mit Strom und Erdgas zu beliefern – ganz gleich, ob sie einen Vertrag mit uns haben oder nicht. Also auch dann, wenn andere Lieferanten ausfallen. Um unseren Aufgaben als verlässlicher Grundversorger nachzukommen und um starke Schwankungen bei den Endkundenpreisen zu vermeiden, beschaffen wir Energie möglichst risikoarm. Dafür nutzen wir den Terminmarkt, der in der Regel deutlich weniger Ausschläge aufweist als der kurzfristige Handel am Spotmarkt. Um das Preisrisiko weiter zu verringern, kaufen wir außerdem die prognostizierten Mengen in sogenannten Tranchen bis zu drei Jahre im Voraus. Also heute bereits Teilmengen für 2024, 2025 und 2026. Wir nutzen natürlich auch die aktuell günstigeren Börsenpreise für die Beschaffung künftiger Bedarfsmengen – davon profitieren unsere Kunden zum Lieferzeitpunkt. Der Preis, den unsere Kundinnen und Kunden hier in der Region zahlen, ist sozusagen immer ein Durchschnitt aus drei Jahren, sodass aktuelle Preisereignisse zeitversetzt bei unseren Kundinnen und Kunden ankommen.

„Aktuell zahlen unsere Kundinnen und Kunden den Durchschnittspreis aus den vergangenen drei Jahren – darin bildet sich der Markt rund anderthalb Jahre vor und anderthalb Jahre während der Energiekrise ab.“

Also nützen Ihnen Kurseinbrüche am Spotmarkt der Börse wenig?

Richtig. Durch unseren Versorgungsauftrag sind wir auf dem Spotmarkt kaum aktiv. Denn dort schwanken die Preise mitunter massiv, speziell in den vergangenen zwei Jahren. Und diese Schwankungen sind so gut wie nicht prognostizierbar. Der Spotmarkt ist für uns und andere Stadtwerke daher lediglich dafür da, um Tagesdifferenzen auszugleichen. Also Mengen, die von unserer Prognose entweder nach oben oder nach unten abweichen. Es gibt allerdings auch Anbieter, die sich speziell auf diesem kurzfristigen Markt mit Energie eindecken – und Billigangebote für Strom und Erdgas unterbreiten. Sie und in der Folge auch deren Kundinnen und Kunden nehmen allerdings hohe Risiken in Kauf. An manchen Tagen können sie Energie zwar verhältnismäßig günstig beschaffen. Weil dieser Markt jedoch hoch volatil und schwer vorherzusagen ist, besteht die Gefahr, sich weitere Mengen an Tagen mit extrem hohen Preisen sichern zu müssen. Die Folgen davon haben viele Kundinnen und Kunden im vergangenen Jahr zu spüren bekommen. Denn zahlreiche Lieferanten mit solchen Geschäftspraktiken gingen insolvent oder kündigten die Verträge auf.

Schwanken die Preise auf dem Terminmarkt denn weniger?

Der Terminmarkt reagiert in der Regel weniger stark auf kurzfristige Ereignisse. Außerdem muss zur Bedarfsdeckung im Vergleich zum Spotmarkt am Terminmarkt nicht ständig Energie beschafft werden. Ein Beispiel: Nachdem die russischen Gaslieferungen komplett versiegten und als spätestens nach den Anschlägen auf Nord Stream 1 klar war, dass dies auch so bleibt, stiegen die Kosten für eine Kilowattstunde Strom um das zehn- bis 15-fache an der Börse, nämlich auf 100 Cent pro Kilowattstunde. Weil wir auf dem Terminmarkt langfristig einkaufen, konnten wir diese Entwicklung einfach aussitzen. Denn wir haben nicht die Verpflichtung, für morgen zu kaufen, um unsere Kundinnen und Kunden zu beliefern. Das haben wir unter anderem für kurzfristige Lieferverpflichtungen längst auf dem Terminmarkt getan.

Auf dem Terminmarkt fielen die Preise zuletzt ja auch.

Ja, aber erst seit Kurzem. Dies ist eine erfreuliche Entwicklung, die – sofern sie länger andauert – zeitversetzt auch bei den Privathaushalten ankommt. Aktuell zahlen unsere Kundinnen und Kunden den Durchschnittspreis aus den vergangenen drei Jahren – darin bildet sich der Markt rund anderthalb Jahre vor und anderthalb Jahre während der Energiekrise ab. Und wir haben es seitdem mit einem Preisniveau nie gekannten Ausmaßes zu tun. Auch wenn das irrwitzig klingen mag: Im Vergleich zu der Entwicklung im Großhandel seit Beginn der Energiekrise sind unsere Preise für Privathaushalte nach wie vor moderat. Sie profitieren noch von der deutlich günstigeren Marktlage aus der Zeit davor, also aus 2020 und der ersten Hälfte 2021.

Müssen Kund:innen denn eher mit steigenden Preisen rechnen?

Die Preise auf dem Terminmarkt fallen seit einigen Wochen. Davor, also bis Oktober 2022, sahen wir uns ein Jahr lang einem ausschließlich steigenden Markt ausgesetzt. Deshalb sind die Preise im Vergleich zur Zeit vor der Energiekrise immer noch hoch. Aktuell liegen sie in etwa auf dem Niveau von Anfang 2022, also noch vor dem Krieg in der Ukraine, aber nach Beginn der Energiekrise, die ja im Herbst 2021 losging. Wir rechnen auch nicht damit, dass Strom und Erdgas in absehbarer Zeit wieder so günstig werden wird wie noch vor anderthalb Jahren oder der Zeit davor, als wir im Jahr 2016 historische Tiefstpreise gesehen haben. Da spricht einfach vieles dagegen. Der Energiebedarf wird beispielsweise durch den Ausbau der Elektromobilität weiter steigen, gleichzeitig gehen Kohle- und Atomkraftwerke vom Netz – da kann der Ausbau der erneuerbaren Energien aktuell noch nicht mithalten. Allerdings gehe ich auch nicht davon aus, dass die Preise wieder auf das ganz hohe Niveau des Zeitraums zwischen Februar und Oktober 2022 klettern. Kurzum: Generell wird Energie zumindest mittelfristig teurer bleiben als je zuvor. Darauf müssen sich die Menschen einstellen.

Was heißt das denn in Cent je Kilowattstunde?

Vor zwei Jahren kostete Strom bei uns für einen Durchschnittshaushalt etwa 27 Cent je Kilowattstunde, Gas rund 6 bis 7 Cent. Damals wurden an der Börse teilweise Energiepreise gehandelt, die nicht einmal die Grenzkosten der produzierenden Kraftwerke decken konnten. Da kommen wir höchstwahrscheinlich auch nicht mehr hin. Preise für Privathaushalte von etwa 30 bis 35 Cent je Kilowattstunde Strom und zehn bis zwölf Cent je Kilowattstunde Erdgas hält die Branche dagegen für durchaus realistisch. Da die Energiepreise jedoch durch unzählige Faktoren beeinflusst werden, ist eine verbindliche Vorhersage nur sehr schwer und unter Vorbehalt zu treffen. Sollte die Politik Abgaben und Umlagen verringern – wie zuletzt etwa durch die Abschaffung der EEG-Umlage oder die temporäre Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes von 19 auf 7 Prozent beim Erdgas –, wirkt sich das natürlich preissenkend aus.

Wie eng hängen Strom- und Erdgaspreis zusammen?

Seit Beginn der Energiekrise entwickeln sich die Preise für Strom und Erdgas fast identisch in die gleiche Richtung. Dies war nicht immer so. Den Erdgaspreis beeinflussen zurzeit insbesondere die Speicherstände, im Vorjahr vor allem der Wegfall der russischen Importe. Der Strompreis folgt dieser Entwicklung aus ganz unterschiedlichen Gründen. Zur Stromerzeugung wird beispielsweise weiterhin auch teures Erdgas verwendet, das durch die hohen Produktionskosten Auswirkungen auf den Strompreis hat. Hinzu kommen Ausfälle von Kraftwerken wie bei unseren französischen Nachbarn, die sich deshalb im europäischen Markt mit zusätzlichem Strom eindecken. Auch die Industrie ist weiterhin – und aufgrund eines zwischenzeitlichen weltweiten Konjunkturaufschwungs so stark wie seit Pandemiebeginn nicht mehr – auf Energie angewiesen. Reduziert sich das Angebot eines Energieträgers, wird – sofern technisch möglich – substituiert. Dies hat nach den volkswirtschaftlichen Regeln von Angebot und Nachfrage Auswirkungen auf den gesamten Energiemarkt.

„Anders als erwartet – und die Befürchtungen waren durchaus berechtigt –, stehen wir im Januar mit historisch hohen Füllständen da. Das lässt die Preise fallen.“

Warum geben die Preise denn aktuell nach?

Ganz einfach. Weil die Erdgasspeicher gut gefüllt sind. Anders als erwartet – und die Befürchtungen waren durchaus berechtigt –, stehen wir im Januar mit historisch hohen Füllständen da. Dafür sorgten die bislang milden Temperaturen in diesem Winter. Zuvor hatten wir außerdem alle gesetzlich vorgegebenen Einspeicherziele erreicht und das Ausspeichern blieb unter den Prognosen. Es war lange Zeit unsicher, ob wir ohne russisches Erdgas auskommen können. Vor allem auch mit Blick auf den kommenden Winter 2023/24. Da gibt inzwischen – Stand Januar – selbst die Bundesnetzagentur leichte Entwarnung. Denn die Speicher sind zu fast 90 Prozent gefüllt. Dies könnte bereits ein Hinweis darauf sein, dass wir auch die kommende kalte Jahreszeit ohne den Import von russischem Erdgas bewältigen können. Vorausgesetzt, wir bekommen keinen arktischen Februar und März mehr. Aber auch wenn sich die Marktlage momentan scheinbar beruhigt hat, ist die weltpolitische Lage durch den andauernden Krieg in der Ukraine weiter angespannt und unvorhersehbar. Nach wie vor können unerwartet Ereignisse eintreten, die die Energiepreise erneut durch die Decke gehen lassen. Daher bleibt das zielführende Einsparen von Energie weiterhin das Gebot der Stunde.

Wenn der Abwärtstrend im Großhandel anhält: Wann käme die Entwicklung bei den Kund:innen an?

Wir beschaffen aktuell Strom und Erdgas für die Jahre 2024 und die weitere Zukunft. Jeder Kauf einer Tranche wirkt sich grundsätzlich auf unser Portfolio aus – und somit auf die Preise für unsere Kundinnen und Kunden. Deshalb hoffen wir sehr, dass die Preise weiter fallen, um die Spitzen vom Vorjahr bereits für das Lieferjahr 2024 zu glätten. Prognosen für 2025 und 2026 lassen sich momentan noch nicht seriös stellen. Fakt ist, dass die ganz großen Preisverwerfungen derzeit nicht zu verzeichnen sind. Ohnehin bewegen sich die weiter in der Zukunft liegenden Börsenpreise auf einem günstigeren Niveau als die kurzfristigen Produkte am Terminmarkt. Und für diese künftigen Jahre werden wir ja auch noch viele Käufe tätigen.

Kauft die Rheinhessische jetzt eigentlich anders ein als vor der Krise?

Nein. Denn trotz aller Herausforderungen bewährt sich unsere Strategie. Dies haben wir mit Stresstests auf Herz und Nieren geprüft – in unseren Gremien und mit anderen Branchenexperten. Auf die aktuelle Situation übertragen, heißt das: Wir kaufen weiter in Tranchen für Jahre im Voraus ein und nehmen günstige Marktbewegungen mit, wie wir sie aktuell erleben. Ob sich grundsätzlich alternative Beschaffungsstrategien empfehlen, prüfen und beraten wir ständig. Das Ergebnis muss aber immer im Sinne unserer Kundinnen und Kunden sein, also ihnen einen Vorteil bringen.

Hat sich Ihr Arbeitsalltag verändert?

Vom Grundsatz her nicht. Auch vor der Krise mussten wir sehr gewissenhaft arbeiten. Denn bei der Energiebeschaffung geht es um große Geldsummen. Ich mache meinen Job sehr gerne. Aber weniger starke Marktschwankungen würden sicherlich meinem Schlaf guttun. Stimmte vor der Energiekrise eine Prognose mal nicht exakt, waren die wirtschaftlichen Folgen überschaubar. Wir konnten dann zu ähnlichen Bedingen am Spotmarkt nachkaufen. Das ist heute anders. Die Auswirkungen eines Prognosefehlers würden deutlich stärker ins Gewicht fallen. Deshalb müssen wir noch exakter einschätzen, welche Energiemengen wir für unsere Kundinnen und Kunden benötigen. Dadurch hat die Risikofaktorenbewertung bei der Beschaffung eine noch höhere Bedeutung als früher. Zudem haben sich natürlich die Rahmenbedingungen stark verändert. Heute gehört etwa eine drohende Gasmangellage zu einem möglichen Szenario, mit dem wir uns beschäftigen müssen und das sowohl den Strom- als auch den Gaspreis massiv beeinflusst. Dies gab es in der Vergangenheit in dieser Ausprägung einfach nicht.

„Wir rechnen nicht damit, dass Strom und Gas wieder so günstig werden wird wie noch vor anderthalb Jahren.“

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