Die Liste der Herausforderungen, mit denen sich die deutsche Energiewirtschaft auseinandersetzen muss, ist lang: Die Dekarbonisierung einer Industrienation, unklare gesetzliche Rahmenbedingungen sowie eine immer schwerer einzuschätzende geopolitische Entwicklung und damit die Frage, woher künftig Energieträger nach Deutschland kommen, bilden nur die Spitze des Eisbergs. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit auch für kleinere, lokale Akteure wie die Rheinhessische, sich mit all diesen Themen zu beschäftigen. Im Interview erklärt Geschäftsführer Martin Wunderlich, wie sich die aktuelle Situation auf dem Energiemarkt darstellt und wie die Rheinhessische die bevorstehenden Aufgaben angeht.
Wie würden Sie die aktuelle Situation auf dem Energiemarkt beschreiben?
Als sehr unübersichtlich. Auf der einen Seite haben sich die Energiepreise stabilisiert und alles läuft wieder mehr oder weniger in den gewohnten Bahnen. Auf der anderen Seite leben wir in einer Zeit, in der vieles von dem, was wir Jahrzehnte als gegeben angesehen haben, ins Wanken gerät. Geopolitisch betrachtet gibt es immer weniger Konstanten. Was für ein Land, das aufgrund fehlender eigener Ressourcen bis auf Weiteres auf Energieimporte angewiesen ist, zum Problem werden dürfte. Wir müssen also einen Weg finden, mit dieser Entwicklung umzugehen. Leider hakt es genau an dieser Stelle meiner Ansicht nach gewaltig. Ich bin weit davon entfernt, pauschal auf die deutsche Politik einzuschlagen. Aber so wie in den vergangenen drei Jahren sollte es nicht weitergehen.
Was erwarten Sie von der nächsten Regierung?
Verlässliche Rahmenbedingungen. Also nicht mehr und nicht weniger, als man meiner Meinung nach von einer Regierung erwarten darf. Für uns Energieversorger ist Planungssicherheit von höchster Bedeutung. Denn Veränderungen an unserer Infrastruktur brauchen viele Jahre und erfordern folglich einen stabilen Rahmen, in dem wir uns bewegen können. Nehmen wir eine größere Transformatorstation, eine Anlage, die schnell einen sechsstelligen Betrag kostet. Wenn wir heute einen Kredit dafür aufnehmen möchten, fragt uns die Bank nach unserem Geschäftsmodell, mit dem wir das Geld erwirtschaften, um diesen Kredit zurückzuzahlen. Die Krux an unserem Metier ist, dass wir bei Investitionen in solche Anlagen, aber auch in Leitungsinfrastruktur, in Dekaden rechnen müssen. Folglich versuchen wir natürlich zu prognostizieren, was in 30 oder 40 Jahren sein wird. Angesichts der vielen nicht geklärten Fragen grenzt das inzwischen fast an Kaffeesatzleserei.
Heißt das, dass Sie jetzt erst einmal abwarten und nicht mehr investieren?
Auf gar keinen Fall. Das wäre ein fataler Fehler. Die üblichen politischen Scharmützel haben ohnehin schon viel zu viel Zeit gekostet. Jetzt muss etwas passieren. Die Menschen und die Unternehmen hier in der Region wünschen sich wie wir Planungssicherheit. Und genau die wollen wir bieten. Zumindest soweit wir Einfluss darauf nehmen können. Deshalb werden wir den eingeschlagenen – und im Übrigen von der EU vorgegebenen – Weg konsequent weitergehen. Bedeutet: Wir treiben die Energiewende vor Ort voran. Das von Brüssel gesetzte Datum 2050 für das Ende der fossilen Brennstoffe ist aber nur ein Antrieb. Wir halten diesen Umbau für sinnvoll. Zugegeben – um die deutsche Energieversorgung zu dekarbonisieren, braucht es einen langen Atem. Und jede Menge Geld. Aber letztlich sollten sich die Anstrengungen lohnen. Denn der Ausbau der Erneuerbaren ist die beste verfügbare Option, um Deutschland in Sachen Energie weniger abhängig von geopolitischen Wirrungen zu machen. Darüber hinaus steht die Energiewende zwar üblicherweise im nationalen oder sogar europäischen Kontext. Streng genommen geht es aber immer um die Energiewende vor Ort. Denn dafür sind viele kleine, dezentrale Anlagen und leistungsfähige Netze nötig. Flächendeckend, überall in Deutschland. Folglich sind auch wir gefragt. Natürlich werden wir sehr genau abwägen, in welche Projekte wir einsteigen. Schließlich muss das Ganze bezahlbar bleiben. Für uns, aber natürlich auch für unsere Kundinnen und Kunden, gleich ob im Privat- oder im Geschäftssegment. Und genau wegen dieser schwierigen Gemengelage fahren wir künftig immer mehr auf Sicht. Um nachjustieren zu können, wenn wir merken, dass sich neue Entwicklungen ergeben. Unabhängig davon, ob diese Veränderungen eine technische Ursache haben oder politisch motiviert sind. Kurz: Wir nutzen unseren verfügbaren Rahmen aus und treffen Entscheidungen, die energiewirtschaftlich sinnvoll sind. Wer künftig in Berlin mit wem regiert, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Und wenn die neue Bundesregierung schnell Nägel mit Köpfen macht und wieder klare Rahmenbedingungen setzt – umso besser.
Die Energiewende ist ein riesiger Themenkomplex. Woran arbeiten Sie konkret?
Zunächst einmal natürlich an dem, was uns der Gesetzgeber vorschreibt. Etwa am Einbau von Smart Metern bei den entsprechenden Kundinnen und Kunden oder auch an der Digitalisierung unseres Stromnetzes, damit wir es künftig noch besser steuern können. Aber natürlich engagieren wir uns auch mit Partnern in Sachen Ausbau erneuerbarer Energien – beispielsweise auf dem Kandrich. Darüber hinaus sind wir dabei, ein eigenes Windkraftprojekt in Ingelheim zu realisieren. Hier laufen gerade die Verhandlungen mit Grundstückseigentümern. Nicht zuletzt spielt selbstverständlich auch das Thema Wärme bei uns im Haus eine große Rolle.
Inwiefern?
Fernwärme gilt zu Recht als sinnvolle Option für die Dekarbonisierung des Wärmesektors. Das Problem daran: Sie aufzubauen, geht richtig ins Geld. Deshalb prüfen wir gerade, wo sich entsprechende Netze rechnen könnten. Dafür müssen nämlich bestimmte Kriterien erfüllt sein. Etwa kurze Wege zu den Standorten der zu errichtenden Erzeugungsanlagen und eine hohe Anschlussdichte. Also die Bereitschaft möglichst vieler, auf eine eigene Heizung zu verzichten und – nennen wir es, wie es ist – sich auf uns zu verlassen und langfristig an uns zu binden. Genau deshalb gehen wir so akribisch vor. Denn wir müssen im Grunde schon zum Zeitpunkt der Entscheidung für ein entsprechendes Netz sicherstellen, dass Fernwärme dauerhaft für unsere Kundinnen und Kunden bezahlbar bleibt. Angesichts der vielen Variablen in der Gleichung gehe ich davon aus, dass sich diese durchaus effiziente Art der Wärmeerzeugung nur auf einige Bereiche in der Region beschränken wird.
Inwieweit beeinflusst die Thüga Ihre Arbeit hier vor Ort?
Mit einem Wort: positiv. Denn die Thüga ist ja kein Konzern im eigentlichen Sinn, sondern ein Unternehmen, das sich an rund 100 kommunalen Energieversorgern beteiligt. Demnach verfolgt die Thüga ganz ähnliche Ziele wie wir oder ein vergleichbares Stadtwerk. Die Idee hinter diesem Zusammenschluss erweist sich gerade in der aktuellen Situation als extrem wirkungsvoll. Denn die Thüga entwickelt zusammen mit den Partnerunternehmen Lösungen. Und das zu deutlich günstigeren Konditionen. Einfach, weil sich viele Partner die Kosten dafür teilen. Die Zusammenarbeit reicht von gemeinsam entwickelter Software bis zu verschiedenen Serviceangeboten.
Können Sie Serviceangebote konkretisieren?
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir künftig in Sachen Energiedienstleistungen mit der Thüga kooperieren. Hier sehe ich uns als kommunales Unternehmen in der Verantwortung. Der Erfolg der Energiewende hängt entscheidend davon ab, ob die Menschen daran partizipieren können und für sich einen Nutzen darin erkennen. Ebendies erweist sich aufgrund vieler Vorschriften, aber auch aus rein technischen Gründen bisweilen als schwierig. Was immer noch viele abschreckt. Genau hier sehe ich eine große Chance: Im Verbund der Thüga können wir zusammen mit anderen Regionalversorgern Pakete schnüren, mit denen unsere Kundinnen und Kunden von den Möglichkeiten der Energiewende profitieren – in all ihren Ausprägungen: von der PV-Anlage über eine Wallbox fürs E-Auto bis zur Wärmepumpe. Unser Ziel ist es, all unseren Kundinnen und Kunden Lösungen für ihre Energieprobleme zu bieten. Heißt: Wir kümmern uns perspektivisch um alles, was mit Energie zu tun hat – mit unserer engagierten Mannschaft und mit Hilfe unserer Partner im Thüga-Verbund.
Die Rheinhessische liefert ja auch Erdgas. Wie sieht Ihre Strategie auf diesem Sektor aus?
Hier sind die Spielregeln völlig klar: Stand heute müssen und werden wir das Netz bis 2045 betreiben. Unsere Kundinnen und Kunden können also sicher sein, dass wir sie bis zum festgelegten Ausstiegsdatum zuverlässig mit Erdgas beliefern. Alle anders lautenden Meldungen sind schlicht falsch. Wie sich die Finanzierung des Gasnetzes gestaltet, wenn absehbar immer weniger Kundinnen und Kunden immer weniger Gas abnehmen, die Kosten für den Unterhalt aber gleichbleiben, wird sich weisen. Hier hat der Gesetzgeber zwar schon erste Vorstöße gemacht. Aber gelöst ist dieses Problem aus meiner Sicht noch nicht.
„Falsche Meldungen“ ist ein guter Stichpunkt. Einige Medien, aber auch Politikerinnen und Politiker sehen eine bedrohliche Entwicklung, darin, dass Deutschland 2024 deutlich mehr Strom importiert als exportiert hat. Wie begegnen Sie jemandem, der aus dieser Tatsache den Schluss zieht, dass in Deutschland jetzt langsam die Lichter ausgehen?
Derartige Aussagen halte ich für gefährlich. Weil sie die Menschen verunsichern und dazu ein Problem konstruieren, das faktisch nicht existiert. Denn hierzulande stehen nach wie vor genug Kraftwerke zur Verfügung. Es war eine bewusste Entscheidung, sie nicht zu nutzen. Sie blieben ausgeschaltet, weil es über weite Strecken günstiger war, Strom von unseren Nachbarn zu beziehen. Und obendrein besser fürs Klima. Schließlich hat Deutschland auch jede Menge Ökostrom importiert. Natürlich ist der aktuelle, windarme und trübe Winter mit schwachen Wind- und Solarstromerträgen Wasser auf die Mühlen derer, die die Energiewende für Teufelszeug halten. Nüchtern betrachtet hat das vergangene Jahr aber bewiesen, dass der europäische Stromverbund funktioniert und wir auf ihn setzen können.
Das klingt alles sehr vielversprechend. Wie sicher sind Sie, dass Ihre Strategie aufgeht?
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Und angesichts der verschiedenen nationalen und internationalen Entwicklungen werden belastbare Prognosen immer schwieriger. Was jede Strategie, die auf solchen Annahmen beruht, potenziell infrage stellt. Aber gänzlich ohne Plan zu agieren, kann ja nicht die Lösung sein. Folglich gilt es, eine gewisse Flexibilität einzukalkulieren und sich darauf vorzubereiten, sich von der einen oder anderen Idee zu verabschieden. Trotz all dieser Unsicherheiten stehe ich dafür ein, dass wir unser Versprechen halten: Ingelheims Energieinfrastruktur fit für die Zukunft zu machen und die hier lebenden Menschen zuverlässig und zu fairen Konditionen zu versorgen. Um das zu erreichen, suchen wir auch intern immer nach Optimierungspotenzial. Denn je effizienter wir arbeiten, desto mehr Ressourcen können wir in die bevorstehende Transformation stecken. Wir sind ein kommunales Unternehmen, in erster Linie sind wir der Daseinsvorsorge verpflichtet. Ebendies bedeutet auch, dass wir im Gegensatz zu einem anonymen Konzern nicht das Ziel verfolgen, möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften. Stattdessen unternehmen wir alles in unserer Macht Stehende, Ingelheim als den lebenswerten Standort zu erhalten, den so viele Menschen zu schätzen wissen. Das war schon immer so. Und das wird auch immer so bleiben. Versprochen.
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